In seinem Urteil vom 30.07.2024 (Az. BGH VI ZR 115/22) hat sich der BGH mit dem Begriff der Erstversorgung durch den Durchgangsarzt sowie mit der Bedeutung der Eintragungen im Durchgangsarztbericht bei der Bestimmung der Passivlegitimation beschäftigt und dabei wie folgt entschieden:

  1. Die der öffentlich-rechtlichen Amtsausübung des Durchgangsarztes zuzuordnende Erstversorgung findet regelmäßig zeitlich vor dessen Entscheidung über die Art der Heilbehandlung statt. Davon zu unterscheiden sind Maßnahmen, die zeitlich nach und in Vollzug der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung durchgeführt werden und grundsätzlich als privatrechtliches Handeln des Durchgangsarztes zu qualifizieren sind.
  2. Eine Operation ist mutmaßlich keine unaufschiebbare Maßnahme, wenn vorher Zeit für ein Aufklärungsgespräch war und der eigentliche Eingriff erst drei Stunden später begann. Eine Eilbedürftigkeit im Sinne einer Notfalloperation ist nicht anzunehmen, wenn eine zeitnahe OP zwar wünschenswert war, die Operation jedoch auch am nächsten Morgen hätte durchgeführt werden können.
  3. Zwar hat der Durchgangsarztbericht eine Indizwirkung für die Beantwortung der Frage, welche Maßnahmen noch im Vorbereitungsstadium erfolgten. Diese Indizwirkung entfällt jedoch, wenn die Zuordnung zu den aufgezeigten Kategorien beliebig oder willkürlich erscheint. Dies ist anzunehmen, wenn der Durchgangsarzt den Begriff der Erstversorgung verkennt und ihm Maßnahmen zuordnet, die zu der besonderen Heilbehandlung gehören und die sich faktisch bereits als Vollzug einer zuvor konkludent getroffenen, aber nicht offengelegten Entscheidung für die besondere Heilbehandlung darstellen.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Am 20. Juni 2012 – nach dem Durchgangsarztbericht um 15.20 Uhr – stürzte die zum damaligen Zeitpunkt achtjährige Klägerin auf dem Schulhof. Sie kam am Spätnachmittag in Begleitung ihrer Mutter in die Klinik der Beklagten. Dort wurde nach einer Röntgenuntersuchung die Diagnose einer distalen Unterarmfraktur rechts mit dorsaler Abkippung gestellt. Gegen 17.00 Uhr fand ein Aufklärungsgespräch mit der Klägerin und ihrer Mutter zur geplanten operativen Behandlung statt. Um ca. 20.00 Uhr wurde die Narkose eingeleitet, kurz danach mit der Operation begonnen, um 22.45 Uhr wurde die Klägerin auf die Normalstation verlegt.

Die Klägerin begehrt nunmehr von der Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen Aufklärungs- und ärztlichen Behandlungsfehlern in deren Klinikum. Sie stützt ihre Klage insbesondere auf eine behauptete fehlende medizinische Indikation des Eingriffs, die Frage der vollständigen ärztlichen Aufklärung und Behandlungsfehler beim Eingriff, die gesundheitliche Beeinträchtigungen im Bereich des rechten Handgelenks hervorgerufen haben sollen.

Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen, da es sich nicht vom Vorliegen von Behandlungsfehlern überzeugen konnte und von einer wirksamen Einwilligung nach ordnungsgemäßer Aufklärung ausgegangen war. Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO wegen fehlender Passivlegitimation der Beklagten zurückgewiesen. Der BGH verwies nun die Sache an das Berufungsgericht zurück und begründete dies wie folgt:

Zutreffend sei das Berufungsgericht zunächst davon ausgegangen, dass die Erstversorgung durch den Durchgangsarzt der öffentlich-rechtlichen Aufgabe des Durchgangsarztes zuzuordnen sei. Auch die Entscheidung, ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich sei, treffe der Durchgangsarzt in Ausübung eines öffentlichen Amtes. Ist seine Entscheidung über die Art der Heilbehandlung fehlerhaft und wird der Verletzte dadurch geschädigt, so haftet für diese Schäden der Durchgangsarzt nicht persönlich, sondern die Berufsgenossenschaft nach Art. 34 S. 1 GG.

Darüber hinaus sind auch die vom Durchgangsarzt im Rahmen der Eingangsuntersuchung vorgenommenen Untersuchungen zur Diagnosestellung und die anschließende Diagnosestellung als hoheitlich im Sinne von Art. 34 Satz 1 GG, § 839 BGB zu qualifizieren, da diese Maßnahmen regelmäßig unabdingbare Voraussetzung für die Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung oder eine besondere Heilbehandlung erfolgen soll sind. Sie bilden laut BGH die Grundlage für die der Berufsgenossenschaft obliegende, in Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgende Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung ausreicht oder wegen der Art oder Schwere der Verletzung eine besondere Heilbehandlung erforderlich ist, und stehen mit ihr in einem inneren Zusammenhang. Darüber hinaus ist auch die Erstversorgung durch den Durchgangsarzt hoheitlich einzuordnen, da dieser regelmäßig in engem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Heilbehandlung und der diese vorbereitenden Maßnahmen auch als Erstversorger tätig wird.

Entgegen der Auffassung des OLG fällt die Operation jedoch nicht mehr unter den Begriff der Erstversorgung. Das Berufungsgericht hat diesen Begriff damit rechtsfehlerhaft verkannt und darüber hinaus den Eintragungen des Arztes im D-Arzt-Bericht für die Qualifizierung der Operation zu Unrecht eine maßgebliche Bedeutung zugesprochen.

In § 9 des gemäß § 34 Abs. 3 SGB VII abgeschlossenen Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger wird ausgeführt, dass die Erstversorgung die ärztlichen Leistungen umfasst, die den Rahmen des sofort Notwendigen nicht überschreiten. Maßnahmen der Erstversorgung können demnach je nach Fallkonstellation auch (nur) vom Durchgangsarzt selbst erbracht werden und umfassen Behandlungsmaßnahmen wie z.B. Wundversorgung, Verbände und Injektionen. Die der öffentlich-rechtlichen Amtsausübung des Durchgangsarztes zuzuordnende Erstversorgung findet dabei regelmäßig zeitlich vor dessen Entscheidung über die Art der Heilbehandlung statt. Davon zu unterscheiden sind Maßnahmen, die zeitlich nach und in Vollzug der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung durchgeführt werden und grundsätzlich als privatrechtliches Handeln des Durchgangsarztes zu qualifizieren sind.

Gemessen an diesen Kriterien gehörte die streitgegenständliche Operation nicht der Erstversorgung, sondern der besonderen Heilbehandlung an. Dabei kam es auch nicht darauf an, dass der Durchgangsarzt in dem Durchgangsbericht die Operation als „Notoperation“ bezeichnet hatte. Vielmehr zeigt auch der zeitliche Ablauf, dass es sich nicht um eine unaufschiebbare Operation handelte. Die Frage, welche Maßnahme noch der Vorbereitung der Entscheidung dient und damit der Erstversorgung zuzurechnen ist, darf nicht zur freien Disposition des Durchgangsarztes stehen. Vor diesem Hintergrund entfällt eine mögliche Indizwirkung des Durchgangsarztberichts, wenn die Zuordnung zu den aufgezeigten Kategorien beliebig oder willkürlich erscheint. Im streitgegenständlichen Fall war die im Bericht vorgenommene Einordnung aufgrund der objektiven Umstände nicht vertretbar.

Nachdem eine persönliche Haftung der Beklagten damit in Betracht kommt, war die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.