Der BGH hatte sich in einer aktuellen Entscheidung mit der Abgrenzung zwischen einem Befunderhebungsfehler und einer fehlenden therapeutischen Sicherungsaufklärung zu befassen. In dem Urteil vom 04.06.2024 (Az. VI ZR 108/23) stellt der BGH nunmehr fest, dass für die Abgrenzung eines Befunderhebungsfehlers von einem Fehler der therapeutischen Information darauf abzustellen sei, wo der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens liege.

Unterlässt es der Arzt, den Patienten lediglich über die Dringlichkeit der medizinisch gebotenen Maßnahmen zu informieren und ihn vor Gefahren zu warnen, die im Fall des Unterbleibens entstehen können, liegt grundsätzlich lediglich ein Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Information des Patienten und eben kein Befunderhebungsfehler vor. In diesen Fällen liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens regelmäßig nicht in der unterbliebenen Befunderhebung als solcher, sondern in dem Unterlassen von Warnhinweisen zum Zwecke der Sicherstellung des. Unterlässt es der Arzt dagegen, einen medizinisch gebotenen Befund rechtzeitig zu erheben oder zu sichern, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in der unterbliebenen Befunderhebung, da die standardwidrig verspätete Erhebung eines Befundes seiner Nichterhebung gleichsteht. Im vorliegenden Fall sei unter Berücksichtigung dieser Grundsätze von einem Befunderhebungsfehler auszugehen, so der BGH.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Kläger war in der 25. Schwangerschaftswoche in der gynäkologischen Klinik des von der Beklagten betriebenen Krankenhauses geboren und in der dortigen Klinik für Kinder- und Jugendmedizin versorgt worden.  Weil sich die Gefäße in der Netzhaut vom Sehnerv in die Peripherie ausbilden und dieser Prozess erst mit dem regulären Geburtstermin abgeschlossen ist, besteht bei Frühgeborenen ein besonderes Risiko für eine gestörte Blutgefäßentwicklung der Netzhaut (Frühgeborenen-Retinopathie) und eine sich daraus entwickelnde Netzhautablösung. Aus diesem Grund wurden beim Kläger regelmäßige augenärztliche Untersuchungen vorgenommen. Diese ergaben jeweils keine Hinweise auf eine Frühgeborenen-Retinopathie. Knapp zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin wurde der Kläger aus der stationären Behandlung nach Hause entlassen. Laut vorläufigem Entlassungsbrief empfahl die Beklagte eine augenärztliche Kontrolle in drei Monaten. 3,5 Wochen nach der Entlassung des Klägers wurde bei diesem eine Frühgeborenen-Retinopathie diagnostiziert. Auf dem rechten Auge war der Kläger bereits vollständig erblindet, die Behandlung des linken Auges hatte kaum Erfolg, weshalb der Kläger auf diesem Auge eine hochgradige Sehbehinderung davontrug.

Das erstinstanzliche Gericht hatte die Klage abgewiesen, das OLG Oldenburg hatte die Beklagte zu einer Schadensersatzzahlung verurteilt. Die Beklagte verfolgte mit der Revision ihren Antrag auf Klageabweisung weiter. Der BGH bestätigte, dass der Beklagten vorliegend Behandlungsfehler unterlaufen seien, begründete dies jedoch – anders als das Berufungsgericht, welches einen Fehler der therapeutischen Information angenommen hatte – mit einem Befunderhebungsfehler und verwies die Sache zur neuen Entscheidung an das OLG zurück.

Demnach können der Krankenhausträger und die den Patienten im Krankenhaus behandelnden Ärzte verpflichtet sein, dafür zu sorgen, dass die erforderliche Nachbehandlung des Patienten sachgerecht erfolgt. Dies entspreche dem Grundsatz, dass das Wohl des Patienten oberstes Gebot und Richtschnur jeden ärztlichen Handelns sei.

So müsse der behandelnde Arzt auf eine rasche diagnostische Abklärung und gegebenenfalls Therapie hinwirken, um vermeidbare Schädigungen des Patienten auszuschließen. Bei arbeitsteiligem Zusammenwirken müssen die beteiligten Ärzte den spezifischen Gefahren der Arbeitsteilung entgegenwirken und durch Koordination der konkreten Behandlungsabläufe den fachärztlichen Standard der Gesamtbehandlung ohne Lücken an Information, Abstimmung und Behandlungszuständigkeit unter den Behandlungsbeteiligten sicherstellen. Dies gelte auch für die Entlassung des Patienten aus stationärer Behandlung, wenn dieser eine ambulante Anschlussbehandlung benötigt. Auch hier bestehe eine Pflicht der behandelnden Ärzte und des Krankenhausträgers, durch hinreichende Information und Koordination des Behandlungsgeschehens vermeidbare Risiken für den Patienten auszuschließen.

Einer solchen Verpflichtung stehen auch sozialrechtliche Bestimmungen nicht entgegen, so der BGH. Ein Krankenhausträger sei unter den Voraussetzungen des § 115a SGB V berechtigt, gesetzlich Versicherte im Anschluss an die stationäre Krankenhausbehandlung ohne Unterkunft und Verpflegung weiter zu behandeln, und gemäß § 39 Abs. 1a SGB V verpflichtet, im Rahmen der bestehenden Versorgungsstruktur für eine sachgerechte Anschlussversorgung nach der Krankenhausbehandlung zu sorgen. Danach sei es Aufgabe des Krankenhauses, in einem Entlassplan die medizinisch unmittelbar erforderlichen Anschlussleistungen festzulegen und in Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten und dem Pflegepersonal die gebotene Anschlussversorgung fachlich zu strukturieren und zu konkretisieren sowie die vorgesehenen konkreten Abläufe mit den daran Beteiligten zu koordinieren.

Vor diesem Hintergrund sah der BGH die Beklagte als verpflichtet an, die für die Erhaltung der Sehkraft des Klägers elementaren augenärztliche Abschlussuntersuchung zu veranlassen. So stand auch der Zeitpunkt der Untersuchung, nämlich der errechnete Geburtstermin, bereits fest. Auch aus der ex-ante Perspektive habe bis zum Eintritt der Vollreife des Kindes die erhöhte Gefahr einer Netzhautablösung bestanden, der nur durch eine sofortige medizinische Intervention hätte begegnet werden können. Ein Unterlassen der Untersuchung, deren Zweck nur durch eine Durchführung zum angegebenen Zeitpunkt erreicht werden konnte, barg das Risiko einer schwerwiegenden und sein Leben massiv beeinträchtigenden Schädigung des Kindes. In dieser Situation hätte die Beklagte zum Schutz des ihr anvertrauten Klägers – wenn sie eine nachstationäre Behandlung des Klägers nicht für erforderlich hielt – zumindest in Absprache mit den Eltern frühzeitig Kontakt mit einem weiterbehandelnden Augenarzt aufnehmen und für einen rechtzeitigen Termin für die Untersuchung des Klägers, beispielsweise durch Vereinbarung eines Untersuchungstermins, sorgen müssen.

Darüber hinaus habe die Beklagte die Durchführung der medizinisch gebotenen augenärztlichen Abschlussuntersuchung und damit die Erhebung von Kontrollbefunden durch falsche Angaben vereitelt. Durch die Mitteilung, die augenärztliche Kontrolle habe erst in drei Monaten zu erfolgen, habe die Beklagte den Eltern des Klägers die Möglichkeit einer rechtzeitigen Abklärung genommen.