Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hatte sich in einem aktuellen Fall mit der Frage zu befassen, ob das Übersehen einer Radiusköpfchen-Luxation einen Verstoß gegen den medizinischen Standard darstellt und damit zur Haftung wegen eines Diagnosefehlers führen kann (OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 24.09.2025 – Az. 17 U 58/23).

Der Fall:
Die Klägerin suchte nach einem Sturz auf den rechten Arm die Notaufnahme der später beklagten Klinik auf. Der diensthabende mitverklagte Arzt veranlasste eine Röntgenaufnahme des Unterarms in zwei Ebenen, die durch den durchführenden Radiologen als unauffällig und ohne Anzeichen für eine knöcherne Verletzung oder Luxation befundet wurde. Der Klägerin wurde Schonung anempfohlen. Nachdem die Klägerin durch ihren Kinderarzt in eine andere Klinik überwiesen wurde, diagnostizierte man dort eine isolierte Radiusköpfchenfraktur rechts. Der Versuch der geschlossenen Reposition in Vollnarkose war erfolglos. Nach einigen Nachbehandlungen wurde ein chirurgisch-orthopädisches Privatgutachten in Auftrag gegeben, dass zu dem Schluss kam, die ursprüngliche Befundung des Röntgenbildes bei Ersteinlieferung in der Notaufnahme sei „fundamental falsch“ und „völlig unverständlich“. Mit der Behauptung, bei Erstvorstellung habe eine Monteggia-Läsion vorgelegen, die grob fehlerhaft nicht erkannt worden sei, verlangte die Klägerin Schmerzensgeld sowie die Feststellung künftiger materieller und immaterieller Schäden. Im Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt wurde ein Sachverständigengutachten erholt, welches einen Behandlungsfehler nicht zur Überzeugung des Gerichts nachweisen konnte. Die Klage wurde abgewiesen. Hiergegen wandte sich die Klägerin mit der Berufung.

Die Entscheidung des Gerichts:
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main wies die Berufung mangels eines vorwerfbaren Behandlungsfehlers zurück. Grundsätzlich sei das Nichterkennen einer erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden Symptome zwar als Behandlungsfehler zu werten. Dennoch seien Irrtümer bei der Diagnosestellung oft nicht Folge eines vorwerfbaren Versehens, weshalb sog. Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden können. Relevant sei hier der Facharztstandard, der Auskunft darüber gebe, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation ex ante aus berufsfachlicher Sicht seines Fachgebiets erwartet werden kann. Der hier verklagte Arzt (FA für Orthopädie und Unfallchirurgie) musste ein Röntgenbild entsprechend auswerten können, wenngleich die Auswertung durch einen radiologischen Kollegen erfolgte.

Der Senat folgte den medizinischen Ausführungen des Sachverständigen, der bereits im Ausgangsverfahren erläuterte, dass die aufgetretene isolierte Radiusköpfchenläsion äußerst selten vorkomme (Sonderfall von 1:1000 Monteggia-Verletzungen). Sie würde in der Literatur als atypische Verletzung mit geringgradiger Symptomatik beschrieben. Aus diesem Grunde wurde der zu entscheidende Sachverhalt auch nicht als haftungsbegründender Diagnosefehler eingestuft, da die Diagnose zwar unstreitig falsch war, dem Arzt hierfür aber kein Vorwurf zu machen war. Eine Haftung werde nur dann ausgelöst, wenn der behandelnde Arzt ohne vorwerfbare Fehlinterpretation von Befunden eine objektiv unrichtige Diagnose stellt und diese darauf beruht, dass der Arzt eine notwendige Befunderhebung entweder vor der Diagnosestellung oder zur erforderlichen Überprüfung der Diagnose unterlassen hat. Ein Diagnoseirrtum setze voraus, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen. Hat dagegen die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat, er mithin aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ohne diese durch die medizinisch gebotenen Befunderhebungen abzuklären, dann ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Denn bei einer solchen Sachlage ginge es im Kern nicht um die Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung (BGH, Urteil vom 26. Mai 2020 – VI ZR 213/19).

Praxishinweis:
Erneut zeigt sich die besondere Problematik von Reichweite und Grenzen der Befunderhebung und der daran anschließenden Diagnostik. Der Senat grenzt die verschiedenen „Haftungsquellen“ im frühen Stadium der Behandlung nochmals deutlich ab und zeigt deren rechtliche Bedeutung. Wesentlich ist demnach, ob die erforderlichen Befunde überhaupt erhoben wurden oder nicht. Unterbleibt dies, kann eine Haftung schnell ausgelöst werden. Freilich stellt die Befunderhebung keinen „Freibrief“ dar, denn auch Diagnosefehler können zu haftungsrechtlichen Folgen führen. Hier kommt es auf die medizinische Einschätzung an, ob es sich um eine vorwerfbare Fehlinterpretation oder nur ein „Versehen“ handelt. Zur Beantwortung dieser Frage ist der Facharztstandard heranzuziehen. Gerade im Bereich der Orthopädie und Unfallchirurgie weist der Senat in seiner Entscheidung in einer Art „nota bene“ darauf hin, dass die Bezugnahme auf die Befundung eines Radiologen im Sinne arbeitsteiligen Handelns nicht genügen wird, da die Facharztausbildung für Orthopädie und Unfallchirurgie laut Weiterbildungsrecht Indikation, Durchführung und Befunderhebung von konventioneller Röntgendiagnostik voraussetze.

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