Ein Arzt darf im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung seine ungenaue Codierung der Abrechnungsdiagnose durch Vorlage der ordnungsgemäß geführten Behandlungsdokumentation ergänzen und korrigieren. Das SG Marburg hat mit Urteil vom 14.02.2024 (S 18 KA 96/23) festgestellt, dass sich § 57 Abs. 1 BMV-Ä, § 10 AM-RL sowie § 10 MBO-Ä zwar entnehmen lasse, dass der Vertragsarzt seine Therapieentscheidung zu dokumentieren habe, ein Vorrang der kodierten Diagnosen dergestalt, dass eine Ungenauigkeit oder ein Fehler an dieser Stelle nicht über die restliche Behandlungsdokumentation ausgeglichen bzw. korrigiert werden könne, lasse sich diesen Vorschriften hingegen nicht entnehmen.
Im streitgegenständlichen Fall hatte der Kläger, ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, einen Patienten mit dem Medikament „Tecfidera“ behandelt und dies entsprechend abgerechnet. Hierfür codierte er „Periphere Fazialisparese rechts vom idiopathischen Typ (G51.0G), Augenbewegungsstörung (H51.8G), Koordinationsstörung links (R27.8G), Hypertonie (I10.90G) und Encephalomyelitis disseminata (G35.9)“.
Da „Tecfidera“ nur für erwachsene Patienten mit schubförmig remittierender Multiple Sklerose zugelassen ist, setzte die Prüfungsstelle eine schriftliche Beratung fest, obwohl der Kläger der Prüfungsstelle die Behandlungsdokumentation, aus welcher sich die Diagnose einer Multiplen Sklerose ergab, vorgelegt hatte. Begründet hatte die Prüfungsstelle die schriftliche Beratung damit, dass der Vertragsarzt die Diagnose „Multiple Sklerose“ nicht in ausreichendem Maße gegenüber der Krankenkasse dokumentiert habe und somit seinen Dokumentationspflichten nicht ausreichend nachgekommen sei.
Hiergegen wandte sich der Arzt mit der dem Urteil zugrundeliegenden Klage und begründete diese damit, dass den o.g. Vorschriften eine besondere Begründungstiefe der ICD-Codes nicht entnommen werden könne. Vielmehr sei es ausreichend, dass sich aus der Behandlungsdokumentation die richtige Diagnose ergebe. Es fehle an einer Ermächtigungsgrundlage für den belastenden Bescheid, weshalb dieser aufzuheben sei.
Das Gericht gab der Klage vollumfänglich statt. Dadurch, dass der Arzt zunächst eine falsche Abrechnungsdiagnose angegeben habe, trete keine Präklusion des weiteren Tatsachenvortrags ein. Das Gericht stellte vielmehr fest, dass für die Wirtschaftlichkeitsprüfung sämtliche vorgelegten Behandlungsunterlagen heranzuziehen und zu untersuchen seien. Ergebe sich dann aus der Gesamtschaut der vorgelegten Unterlagen eine unwirtschaftliche Verordnung des Arztes, dürfe ein Regress oder eine schriftliche Beratung festgesetzt werden, so das SG Marburg. Eine Trennung zwischen Praxisdokumentation und Dokumentation gegenüber der Krankenkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung, wie sie der Beklagte vorgenommen hatte, ergebe sich aus den gesetzlichen Vorschriften nicht.
Im vorliegenden Fall lasse sich den vorgelegten Behandlungsunterlagen entnehmen, dass der Kläger „Tecfidera“ innerhalb der Zulassung verschrieben hat. Dem stünden auch die von ihm angegebenen Diagnosen in den Behandlungsscheinen nicht entgegen. Zwar lasse sich der Codierung nicht die Diagnose der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose entnehmen, die stattdessen codierte Enzephalitis, Myelitis und Enzephalomyelitis, nicht näher bezeichnet (G04.9) sei jedoch letztendlich der Oberbegriff der Multiplen Sklerose, die eine spezielle Form der Enzephalomyelitis darstelle. Ein Widerspruch zwischen den codierten Diagnosen und der Behandlungsdokumentation, die eindeutig eine Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose belegt, lag somit im Ergebnis nicht vor. Vor diesem Hintergrund war der belastende Bescheid aufzuheben.